Ein lesenswerter Artikel in der Offenbach Post, vom 2. Februar
2016
Stromnetze wird kommunalisiert
Eigene Netzgesellschaft
übernimmt Management
Seligenstadt - Unter allen komplexen Entscheidungen der
Seligenstädter Stadtverordnetenversammlung der vergangenen 20 Jahre
ist der Beschluss zur Kommunalisierung des Stromnetzes der dubioseste
und womöglich auch riskanteste. Von Michael Hofmann
Nach der Investition von bislang schon rund 150 000 Euro allein in
Gutachten und Expertenwissen sowie monatelangen Diskussionen ist der
alte Stromnetzpartner der finanzschwachen Einhardstadt auch der neue:
die EVO, diesmal jedoch als Mehrheitsgesellschafter einer neu zu
gründenden GmbH. Mit Verweis auf die Belange Dritter hatten die
Seligenstädter Parlamentarier in der entscheidenden Phase der
beabsichtigten Übernahme und des Betriebs des Stromnetzes in
Eigenregie („Wegenutzungsverträge“) lange im Halbdunkeln
beratschlagt. Auf Betreiben von CDU und Grünen sowie später mit
Unterstützung der SPD kam schließlich diese Lösung zu Tage: Nach
dem Auslaufen des Strom-Konzessionsvertrags mit der EVO im Jahre 2015
(HEAG-Gas läuft bis 2025) verständigten sich die Parlamentarier
darauf, dass künftig eine eigene Netzgesellschaft (GmbH) das
Management übernimmt.
Unter mehreren Anbietern, so brach Bürgermeister Dr. Daniell
Bastian dieser Tage das „Schweigekartell“ auf, sei die
Entscheidung knapp zugunsten des bisherigen Partners, der EVO,
gefallen. Demnach übernimmt die Stadt 25,1 Prozent (mit
Aufstockungsoption), die EVO 74,9 Prozent der Gesellschaftsanteile.
Damit machen die EVO, die der Stadt bislang jährlich zwischen
550.000 und 620.000 Euro an Konzessionsabgabe für Wegerecht sowie
Verlegung/Betrieb von Leitungen zur Energieversorgung ohne die
geringste Gegenleistung auf den Tresen legte, und die Stadt künftig
gemeinsam bessere Stromgeschäfte. So zumindest der Plan der
entsprechenden Stadtverordneten-Mehrheit aus CDU, Grünen und SPD –
FWS und FDP hatten sich energisch gegen den Deal ausgesprochen. Ob
dieses Ziel je erreicht werden kann, steht dahin. Zweifel werden
laut, vernehmlich äußern mag sich aber derzeit keiner.
Obwohl der allgemein auszumachende Trend zur Kommunalisierung des
Strombetriebs durchaus Befürworter findet, hatten sich
beispielsweise die von der Stadt beauftragten renommierten
Unternehmensberatungsexperten von PricewaterhouseCoopers Legal (PwC;
Frankfurt) in einer umfangreichen, alle Beteiligungs-, Handlungs- und
Betreiber-Optionen durchspielende Expertise („Vergabe der
Stromkonzession in Seligenstadt“, August 2013) erkennbar skeptisch
gezeigt. In der Tat ist die Liste der Vorbehalte lang:
Eine hochkomplexe Materie, komplizierte und vielschichtige
Rechtslage, komplett fehlendes städtische Spezialwissen, keinerlei
Erfahrungen im Wettbewerb, unübersichtliches Hineinlappen der
Vorgaben des Energiewirtschaftsgesetzes, strenge
Bieterverfahrenvorgaben (diskriminierungsfrei, transparent),
einschlägige HGO-Bestimmungen und schließlich: eine mit 22 000
Einwohnern deutlich zu kleine Stadt für ein derartiges Vorhaben.
Der Erwerb ist Existenzgrundlage
Abgesehen von rund 150.000 Euro an verausgabten Gutachterkosten,
eingestellt waren einmal 30.000 Euro, kündigt sich das erste
Ungemach bereits jetzt an: Einer der unterlegenen EVO-Konkurrenten im
Bieterverfahren soll sich nach Bekanntwerden der Entscheidung
ziemlich verschnupft gezeigt, eine Beschwerde angekündigt und
Akteneinsicht eingefordert haben – ein Rechtsstreit ist nicht
ausgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Seligenstädter
Strom-Strategen schon bis zur Handlungsunfähigkeit in die Umsetzung
ihrer Utopie „Energie-Zielszenario 2050“ („Eigene Wege und
Möglichkeiten ausloten“), beschlossen im Oktober 2013, verrannt.
Denn jede Entscheidung zugunsten eines mit der EVO konkurrierenden
Partners hätte bei den anstehenden Verhandlungen über den Netzkauf
unweigerlich massive Probleme mit dem Ex-Partner EVO bedeutet. Da
muss man kein Hellseher sein.
Der Erwerb des Netzes ist die Existenzgrundlage der neuen GmbH.
Natürlich stellt sich vor allem aus Sicht der Stadt zuvorderst die
Frage der Finanzierung. Hatte die Stadt bislang nur
EVO-Konzessionsgelder kassiert, so muss sie jetzt vor dem ersten
selbstverdienten Euro zunächst einmal mitinvestieren – und das
nicht zu knapp. Die einen sprechen von Millionenbeträgen, andere von
deutlich unter einer Million. Genauer darüber reden mag keiner, auch
die EVO nicht. Da dieses Geld der Stadt natürlich nicht zur
Verfügung steht, ist ein Kredit erforderlich, vermutlich über die
KfW-Bankengruppe.
Auch zu bedenken und über die GmbH-Anteile zu finanzieren sind:
Auswahlverfahren, Unternehmensgründung und Übernahmeverhandlungen,
Besoldung des späteren Personals sowie Investition in Infrastruktur,
Instandhaltung und neue Technik. schließlich gilt es, das bisherige
Niveau extrem geringer Stromausfallzeiten unbedingt zu halten.
Stadt trägt Risiko mit
Was hat die Stadt davon? Eine Unternehmensbeteiligung mit einem
25-Prozent-Anteil am Stromnetz und einem 25-Prozent-Anteil am
unternehmerischen Risiko. „Da muss nur ein Umspannwerk den Geist
aufgeben und schon haben wir einen Millionenschaden“, warnen
Kritiker. Zwar seien, so ist von der EVO zu hören, GmbH samt
Vertragsgestaltung, etwa zur Höhe der Konzessionsleistungen oder die
oben aufgeführten Modalitäten, „noch nicht in trockenen Tüchern“,
doch scheint klar: Erhebliche Abschreibungen dürften die GmbH-Bilanz
mit Sicherheit belasten. Außerdem ist auf städtischer Seite eine
dauerhafte Expertenbegleitung unabdingbar, denn in der Seligenstädter
Stadtverwaltung hatte bislang niemand mit diesem Thema zu tun. Ein
weiterer Kostenfaktor.
Befürworter stellen indes eine ganz andere Rechnung auf. So sei
nach akribischen Wirtschaftlichkeitsberechnungen zunächst einmal
klar, „dass das kein Drauflegegeschäft für die Stadt wird.“
Immerhin winke weiterhin die Konzessionsabgabe, die die GmbH künftig
an die Stadt zahlt, zudem sei die Stadt ja zu einem Viertel am Gewinn
des GmbH-Netzbetriebs beteiligt. Auf der Haben-Seite stünden
außerdem strategische Vorteile, etwa ein Mitspracherecht bei der
Netzunterhaltung oder Einflussnahme auf den Ausbau des Netzes.
Das knüpft nahtlos an das einst beschlossene „Zielszenario
2050“ an, in das vor allem die Grünen große Hoffnung setzten:
„Eine einmalige Chance (…) Einfluss auf die Energieversorgung zu
nehmen“, sagte Grünen-Politiker Peter Störk damals. Auch von der
Chance auf Absenkung des Netzentgelts für die Bürger war die Rede.
Natürlich stellt sich die Frage, ob die Bürgerschaft etwas davon
hat, dass die Stadt über GmbH-Anteile ihren Stromleitungsgeschäften
nachgeht. Doch die Einflussnahme in die Netzentgelt-Gestaltung ist
mit Blick auf diese Anteile eine betriebswirtschaftlich wohl kaum
umsetzbare Option. Strom ist überall gleich, er muss her- und
bereitgestellt werden. Und das ist, schon wegen der Synergien, in
einem großen Unternehmen günstiger als in einer kleinen GmbH. Da
das Motto „Je kleiner, desto aufwändiger“ gilt, ist finanzieller
Spielraum also fraglich, denn die Entgelte werden auf der Grundlage
der Netzkosten berechnet. Untauglich ist außerdem der von den Grünen
nachgeschobene Antrag, der Bürger solle in Form von Sparbriefen,
Anleihen oder Genussrechten von den Segnungen der
Beteiligungsgesellschaft profitieren. Ein derart massiver Eingriff
dürfte eine komplette Neuauflage des Bieterverfahrens erforderlich
machen – kaum mehrheitsfähig.
Wie sicher ist unsere Stromversorgung? Fragen & Antworten
Und wie sieht’s mit einem weiteren Seligenstädter Motiv, der
Einflussnahme in die EVO-Strompolitik unter ökologischen oder
Aspekten der Nachhaltigkeit, aus? Das EVO-Portfolio erfüllt längst
– auch ohne Seligenstädter Öko-Rosinen – die Wunschpalette
ökologisch orientierter Energieverbraucher. Und ob sich der Tanker
EVO von einem „Zwergenanteil“ beeinflussen lässt, scheint
fraglich.
Schlagen womöglich einzelne Politiker, Stichwort Pöstchen,
Kapital aus der (noch) ziemlich undurchsichtigen Strom-Kooperation?
Wahrscheinlich ist, dass die EVO einen und die Stadt den zweiten
Geschäftsführer stellt...
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Siehe dazu auch die verschiedenen Kommentare und Meinungen.
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